Tränen aus Straßburg. Zu einem der schönsten unbekannten Gedichte Johann Gottfried Herders

Für Henrik und Kristina Nikula auch

Johann Gottfried Herder


Mattes Auge, du trübst!
fliehst vom Stral ins Dunkle,
birgst dich, leidendes Auge,
ins Dunkle!

Matter Dämmrer! woher
trübst du? bist verweinet
leidendes, blaues Auge,
wie Abendhimmel!

Matter Dämmerer! nicht!
weine nicht mehr! starre nicht hin
ins Dunkel!
in Zukunft!

Schließe dich, sanftes Auge
starr’s nicht an!
Schlummre! sanftere Träume
werden dich umschweben!

Schwebt aus Dunkel hervor,
sanftere Träum’! Umschwebt sie!
aus dem Schoosse der Mitternacht!
der Zukunft!

Schwingt die Flügel! Umschwebt
die holde, zarte
trübe Seele!
mit Morgenroth! mit schönerer Welt!

Ich hör’ ihr Schweben! Sie kommen!
Schließe dich, sanftes Auge!
Schlummre! Sie kommen tröstend!
Starr sie nicht an, die Mitternacht.

Von einem verweinten und leidenden Auge wusste Herder wohl ein Lied zu singen, als diese sieben Strophen in freien Rhythmen im Februar/März 1771 in Straßburg entstanden. Denn dort hatte sich der frischverlobte 26jährige bei dem hochberühmten Chirurgen Lobstein immer neuen Operationen unterzogen, um ein Augenleiden loszuwerden, das ihn seit der Kindheit plagte und sein Gesicht entstellte. Bei der „schmerzlichen, höchst verdrießlichen und unsicheren Operation“ assistierte – auf Abhärtung seiner Nerven bedacht – ein damals noch gänzlich unbekannter Frankfurter Jurastudent. Vierzig Jahre später beschreibt dieser in seinem autobiographischen Prosabuch Dichtung und Wahrheit das Augenübel seines Straßburger Mentors:

„Das Tränensäckchen nämlich ist nach unten zu verschlossen, so daß die darin enthaltene Feuchtigkeit nicht nach der Nase hin und um so weniger abfließen kann, als auch dem benachbarten Knochen die Öffnung fehlt, wodurch diese Sekretion naturgemäß erfolgen sollte. Der Boden des Säckchens muß daher aufgeschnitten und der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den Tränenpunkt, ferner durch das eröffnete Säckchen und durch den damit in Verbindung gesetzten neuen Kanal gezogen und täglich hin und wider bewegt wird, um die Kommunikation zwischen beiden Teilen herzustellen, welches alles nicht getan noch erreicht werden kann, wenn nicht erst in jener Gegend äußerlich ein Einschnitt gemacht worden.“

Höchstens drei Wochen hatte Professor Lobstein im Herbst 1770 für die Kur veranschlagt. Eine Woche lang trägt Herder im abgedunkelten Zimmer eine Bleistange in der Nase, aber der „neue Kanal“ will nicht funktionieren. Weitere Operationen werden angesetzt, weitere Chirurgen hinzugezogen. Ende März 1771 klagt Herder in einem der letzten seiner Straßburger Briefe über das endlose

„Maddern“ an Auge und Nase: „Aus den drei Wochen sind nicht bloß zweimal drei Monate, sondern aus einem Schnitt und einer Nasenbohrung sind wohl 20 Schnitte und 200 Sondierungen geworden, und endlich nach allen Schmerzen, Kosten, Unruhen, Verdrüßlichkeiten etc. ist mein Auge ärger, als es war! Daß ich Materie gnug hätte, eine höchst tragischlustige Epopee oder Ophthalmomachie zu schreiben! […] Was ich am meisten bedaure, ist, durch solche erbärmliche Situation weder Straßburgs noch aller Nachbarschaft umher froh geworden zu sein.“

Es sind diese, von Goethe in allen Details überlieferten, ophtalmologischen Komplikationen, die Herders bedeutendsten Biographen, Rudolf Haym, veranlasst haben, das Gedicht auf Herders eigenes Auge zu beziehen. Aber das ist falsch. Es geht nicht um sein Auge, sondern um die Augen seiner Geliebten, Karoline Flachsland. Die hatte ihm aus Darmstadt nach Straßburg regelmäßig geschrieben, meist sehr ausführlich, aber dann auch mal einen nur kurzen Brief, und sie hatte das mit den Worten entschuldigt: „Erlauben Sie, daß ich Ihnen vor dies mal nur ein paar Zeilen schreibe. Das Licht meiner Augen, das diesen Winter durch viel gelitten, will mir jetzt den Dienst [des] Nachtschreibens versagen. Ich schone meine matten blauen Augen, – – das Licht thut mir wehe!“ Darauf antworten Herders Verse Mattes Auge, du trübst!

Und sie tun es in größter innerer Bewegung. Sie evozieren das Auge der Geliebten, die um Mitternacht an ihn schreibt, dann aber die schmerzenden Augen vom Lichtstrahl abwendet und gedankenverloren ins Dunkel starrt. Aber das soll sie, so ruft das Gedicht ihr zu, nicht tun. Denn dieses Dunkel der Mitternacht wird sie fälschlich für ihre Zukunft halten – dort soll sie nicht hinschauen. „Starr’s nicht an!“ heißt es genau in der Mitte des Gedichts und dann folgt schon der Wunsch:

„Schlummre! sanftere Träume / werden dich umschweben!“ Tröstende Träume, die von Morgenrot und schönerer Welt künden, vom Zusammensein wohl mit dem noch entfernten Geliebten. Durch dreieinhalb Strophen werden die Träume herangerufen. Wie Engel sollen sie ihre Flügel um die holde Seele schwingen. Beschwörend spricht Herder zu seiner Geliebten, 25 Ausrufezeichen sind in die 28 Verse gedrängt, nur einmal, ganz am Schluss, wird ein schlichter Punkt gesetzt, so dass die Wiederholung des mittleren Verses fast resignierend klingt, das „Starr sie nicht an, die Mitternacht.“

Als „Gelegenheitsstück“ aus Herders Straßburger Krankenstube ist das Gedicht abgetan worden. Aber es ist ein großes Liebesgedicht – geschrieben in Klopstockscher Manier an der Schwelle zwischen Empfindsamkeit und Sturm und Drang, drei Jahre bevor der junge Werther in „wonnevollste Tränen“ ausbrechen wird, als Lotte ihm nach dem vorübergezogenen Gewitter wie eine „Losung“ den Namen „Klopstock“ zuraunt.

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