Die Zeitschrift des VdÜ als Fundgrube für translationshistorische Forschung

Vortrag auf der von Sabine Baumann moderierten VdÜ-Veranstaltung Die Zeitschrift Übersetzen feiert (2. Oktober 2021, Hilde-Domin-Saal der Stadtbücherei Heidelberg)

Im Titel meines Vortrags kommt das Wort „Translation“ bzw. „translationshistorische Forschung“ vor. Es soll signalisieren: Ich schaue als Translationswissenschaftler, als Forscher ausdem Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft, in das digitalisierte Archiv der VdÜ-Zeitschrift namens Der Übersetzer bzw. Übersetzen.

Eine Vorbemerkung daher: Das Fach Translationswissenschaft, auch „Translatologie“ genannt, hat sich in den späten 60er und 70er Jahren als eigene akademische Disziplin konstituiert. Und das geschah in den damals noch zwei Deutschländern an Ausbildungsstätten für angehende Fachübersetzer und Konferenzdolmetscher, also an den Universitäten Heidelberg, Leipzig, Saarbrücken oder halt in Germersheim.

Die 1946 von der französischen Besatzungsmacht gegründete Germersheimer Ausbildungsstätte für Übersetzer und Dolmetscher hieß von 1972 bis 1992 Fachbereich Angewandte Sprachwissenschaft. Der Name verrät, von welcher Wissenschaft man sich damals am ehesten die Lösung sämtlicher mit dem Übersetzen verbundener Probleme erwartete: von der Sprachwissenschaft bzw. der Linguistik chomskyscher Ausrichtung.

1971 berichtete Werner Koller in zwei Heften der VdÜ-Zeitschrift Der Übersetzer über die Anfänge der Übersetzungswissenschaft als Teilbereich der Linguistik. Koller stellte die neuesten Theorien zur „Modellierung des Translationsprozesses“ vor, bei der ein „Translator die Umkodierung (vollzieht); es kann sich um den Menschen oder die Maschine handeln. Das Translat schließlich ist das Produkt der Translation“ (Jg. 8, Nr.5, S.2).

Bei solchen Formulierungen mögen 1971 manchem Leser des VdÜ-Monatsheftes die Ohren gejuckt haben. Dass das Literaturübersetzen die neue Wissenschaft von der Translation eher nicht interessierte, hat Werner Koller allerdings auch bereits verraten. Denn es heißt bei ihm: „Die Übersetzung ist ein linguistisches Phänomen, mindestens was pragmatische Texte anbelangt – die literarische Übersetzung wird meistens als ‚Kunst‘ aus der linguistischen Theorie ausgeschlossen“ (ebd., S.1).

An dieser Ausschließeritis hat die Translatologie lange festgehalten. Mit dem literarischen Übersetzen hat sie sich nur selten in einer Weise befasst, die von Literaturübersetzern als Einladung zum Gespräch hätte angenommen werden können. 1984, im November/Dezember-Doppelheft, schreibt Rosemarie Tietze (damals mit Holger Fliessbach für die Redaktion verantwortlich):

Unter Übersetzern genießt die Wissenschaft vom Übersetzen keinen besonders guten Ruf. Denn leider kommt sie nicht selten auf derartigen Wortstelzen daher, daß jeden, der mit Sprache arbeitet, das schiere Grausen packt. Oder wir werden vom Katheder herab belehrt, wie wir zu übersetzen hätten. Da geht man lieber wieder an den Schreibtisch und tut es – unbelehrt.

(Jg. 21, H.11/12, S. 4)

Es ist schon auffällig: Die Translationswissenschaft konnte mit dem Literaturübersetzen nichts anfangen und die Literaturübersetzer nichts mit den Translatologen. Das änderte sich auch nicht, als ab Mitte der 80er Jahre die von Hans J. Vermeer erdachte, auch das Literaturübersetzen vereinnahmende Skopos-Theorie ihren antilinguistisch-antiphilologischen Siegeszug in den Ausbildungsstätten für Übersetzer und Dolmetscher begann. Gibt man das Wort „Skopos“ in das Suchfenster des digitalen Heft-Archivs ein, so erzielt man keinen einzigen Treffer. Und bei „Vermeer“ findet sich nur ein Treffer, im Juli-Dezember-Heft des Jahres 2020, aber da geht es um Jan Vermeer van Delft, den holländischen Maler aus dem 17. Jahrhundert.

Besser steht es um die Heidelberger Translatologin Christiane Nord. Die „Begründerin der deutschen Grundlagenforschung zum Problem der Titelübersetzung“ wird mit ihren an 12.500 Titeln gewonnenen Überlegungen zu eben jener Übersetzung von Buchtiteln ausführlich vorgestellt (Heft 1/2000).

Fragt man nach den Ursachen für die – nach Ausweis des Heft-Archivs – jahrzehntelange Sprachlosigkeit zwischen Translatologen und Literaturübersetzern, so wird man nicht nur auf den von Rosemarie Tietze beklagten wortstelzenartigen Sprachgebrauch der Translationswissenschaftler hinweisen müssen. Man sollte auch schauen, wo und für wen sie ihre Theoriegebäude errichtet haben: in Institutionen, in denen junge Leute zu künftigen Fachübersetzern ausgebildet werden. Und charakteristisch für diese Übersetzer ist, dass sie in aller Regel die von ihnen verfassten Translate nicht mit ihrem Namen signieren: Die Bedienungsanleitungen, Werbetexte, Internetseiten, Verträge, Protokolle, Gesetze, Behördentexte, EUDirektiven, Ansprachen usw. usf. Und wenn diese jungen Leute sich nach dem Studium als Fachtext-Translatoren auf dem Arbeitsmarkt etablieren wollen, so treten sie dem BDÜ bei, dem Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer mit seinen heute ca. 7.500 Mitgliedern.

Im Unterschied zu dieser Gruppe signieren Literaturübersetzer ihre Translate und sie organisieren sich (wenn sie es denn tun) im VdÜ, dem Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke mit seinen ca. 1250 Mitgliedern. Anders als die Verfasser nicht-signierter Texte sind Literaturübersetzer – so steht es in VdÜ-Mitteilungen – auch Urheber ihrer Übersetzungswerke und sie genießen wie die Autoren den Schutz des Urheberrechts. Wie sich der VdÜ um die konkrete Ausgestaltung dieses Rechtes durch Jahrzehnte mit wechselndem Erfolg bemüht hat – auch dafür finden sich im Heftarchiv Belege, Stichwort u.a.: „Mustervertrag“. Über ihn wird erstmals im Anschluss an den legendären internationalen Hamburger Übersetzer-Kongress von 1965 berichtet unter der Überschrift Rechte des Übersetzers (Jg.2, H.9, S.1-3).

Wie es zur Verteilung der Übersetzerzunft auf BDÜ und VdÜ gekommen ist, wäre ein eigenes Kapitel in der zu schreibenden Kulturgeschichte des Übersetzens. Das Heftarchiv gibt darüber keine klare Auskunft, muss es wohl auch nicht.

Dass es in der Zeitschrift des VdÜ immer auch um übersetzte Texte, aber stärker noch um jene gehen sollte, die diese Texte jeweils übersetzt haben, war schon am Namen erkennbar: Der Übersetzer hieß sie durch über 30 Jahre, von 1964 bis 1997. Mit dem Wechsel der Redaktion von Silvia Morawetz zu Kathrin Razum änderte sich der Titel der Zeitschrift. Aus Der Übersetzer wurde Übersetzen.

Ging es der Redaktion des Übersetzers 1997 also darum, den Prozess des ÜbersetzENS statt die Person des ÜbersetzERS stärker in den Fokus zu rücken? Kann man in der Änderung des Titels womöglich eine ungewollte Bestätigung der fast zeitgleich geprägten These des amerikanischen Translatologen Lawrence Venuti erkennen? The Translator’s Invisibility heißt sein 1995 erschienenes Buch. In dem Artikel Die kulturwissenschaftliche Wende in der Übersetzungsforschung wird es in einem Übersetzen-Heft erwähnt, jedoch erst 2006.

Die Umbenennung der Zeitschrift zielte natürlich nicht auf die invisibility ihrer gesamten Hauptleserschaft. Es ging 1997 um das Genderproblem, also darum, dass manche aus dieser Leserschaft als Mitgliederinnen sichtbar gemacht werden wollten. In einer Mitteilung der neuen Redaktion wird dann auch eifrig das große Binnen-I verwendet: „TeilnehmerInnen“, „KollegInnen“, „ÜbersetzerInnen“. Wie die Zeitschrift und der VdÜ im Lauf der Jahrzehnte generell mit dem „Gender-Trouble“ (Angela Plöger, H.2/2020) umgegangen sind, wäre eine eigene translationshistorische Miszelle wert.¹ 2019 (Heft 2) wurde – für mein Sprachgefühl ziemlich wortstelzenartig – mitgeteilt, dass nunmehr auch der VdÜ seinen Namen geändert habe,

sodass unser voller Titel jetzt lautet: Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke e.V. / Bundessparte Übersetzer/innen im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) in ver.di. Kurz – wie immer – VdÜ.

(Jg. 53, H.2 / 2019)

Dass Der Übersetzer auch bei einem anderen Thema seiner Zeit verblüffend weit voraus war, zeigt mir ein Beitrag, in dem es um eine „schwarzamerikanische“ Autorin ging, die für ihre Texte auf einer „afrodeutschen Übersetzerin“ bestand. Denn „sie befürchtete, eine Weiße könnte ihr ‚Schwarzsein‘, ihre Empfindungen als Schwarze, ihre Probleme nicht vermitteln.“ Der Text im Übersetzer stammt nicht aus dem Black Lives Matter-Jahr 2020, es geht in ihm auch nicht um Amanda Gormans Inaugural-Poesie von 2021, sondern Margarete Längsfeld hat ihn 1987 veröffentlicht, als sie Essays von Audre Lorde ins Deutsche zu bringen hatte. (Jg. 23, H.7/8 1987).

***

Auf ein zentrales Charakteristikum der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Übersetzen möchte ich hinweisen: Wir finden durch Jahrzehnte zahllose von Linguisten, Literaturwissenschaftlern und Translatologen geschriebene Bücher und Aufsätze, in denen es um Übersetzungen geht, jedoch nur höchst selten um Übersetzer, um jene also, die all diese Übersetzungen geschrieben haben.

„Eine Übersetzung schreiben“ – Das würde im Schulaufsatz als grober Fehler, als unidiomatisch bzw. als Kollokationsverstoß rot angestrichen. Übersetzungen werden im Deutschen „angefertigt“, „gemacht“, „erstellt“, vielleicht sogar „erarbeitet“ – aber nie und nimmer „geschrieben“. „Geschrieben“ wird ausschließlich Eigenes: ein Brief, ein Aufsatz, ein Gedicht, ein Roman. Was ist da also bereits in unserer Sprache bis in die Nomen-Verb-Beziehung hinein 1 4 fest verankert? Es ist der Primat des Originals. Und es ist diese Fixierung auf das Original und seinen Schöpfer bzw. Urheber, der genau zeitgleich mit dem Aufkommen des Originalitätsund Urhebergedankens die Übersetzer in die Unsichtbarkeit gebracht hat, in die Invisibilität. Das ist indes ein historischer Prozess, der bereits zwei Jahrhunderte vor der Gründung des VdÜ begonnen hat.

Wie sich die determinativlose Autorzeile und analoge Verbannung des Übersetzernamens auf die Rückseite der Titelblätter oder sogar ins Nirgendwo in unseren übersetzten Büchern durchgesetzt hat und welche Auswirkungen (etwa in Bibliothekskatalogen) das für die Befestigung des Originalitätsdispositivs nach wie vor hat – diese wirkmächtige Text-PersonRelation wurde von Aleksey Tashinskiy 2016 in seinem Aufsatz Das Werk und sein Übersetzer ausführlich untersucht.

Im Heft 7/8 1987 stieß ich auf die Überschrift Der Übersetzer und sein Autor. Da wurde das gängige Begriffspaar „Der Autor und sein Übersetzer“ umgedreht. Diese Vertauschung der Beobachtungsposition ist Hauptkennzeichen unserer Arbeit am seit 2015 entstehenden, ebenfalls digital frei zugänglichen Germersheimer Übersetzerlexikon (uelex.de). Wobei wir noch einen Schritt weitergehen, indem wir nicht nur jeweils ein einzelnes Übersetzer-AutorPaar in den Blick nehmen, sondern wir fragen nach dem Übersetzer und seinen AutorEN – und das sind oft sehr viele.

Wir ordnen die Übersetzungen also nicht mehr den jeweiligen Ausgangsautoren zu, sondern wir wollen wissen und darstellen, was ein einzelner Übersetzer (aus oft verschiedenen Sprachen!) insgesamt ins Deutsche gebracht hat. So wie die Literaturwissenschaft nach dem Autor und seinem Werk fragt, so fragen wir als Translationshistoriker nach dem Übersetzer und seinem Werk, nach seinem „translatorischen Œuvre“. Die Text-Person-Relation wird geändert, wodurch sich unser Blick auf die Geschichte des Übersetzens grundlegend von all jenen Forschungsbeiträgen unterscheidet, die bisher von den Einzelphilologien, der Komparatistik oder auch der traditionellen Translatologie erbracht worden sind.

Wir fragen nach der Sprach- und Geobiographie eines Übersetzers: Wie und wo hat er die Sprachen erlernt, aus denen er übersetzt hat: Spielten dabei Schule und Studium, bikulturelle Ehe, freiwilliger oder erzwungener Aufenthalt in anderen Ländern eine Rolle? Und natürlich soll auch das WIE des Übersetzens charakterisiert werden, wofür als Quellen zeitgenössische Kritiken dienen, Laudationes, wissenschaftliche Beiträge und translationspoetologische Aussagen der Übersetzer selbst in Briefen, Interviews und Tagebüchern oder auch Werkstattprotokolle.

Für all diese Aspekte ist die VdÜ-Zeitschrift eine Fundgrube. Das beginnt mit der Prosopographie, also der Zusammenstellung einer Namensliste, wer in den letzten sieben Jahrzehnten als Literaturübersetzer in Erscheinung getreten ist. Aufschlussreich für einen ersten Einblick in das jeweilige translatorische Œuvre sind die in der Zeitschrift regelmäßig veröffentlichten Nachrufe. Wobei ich als Wissenschaftler natürlich beachten muss, dass diese Textsorte (ähnlich der Preisrede) stark hagiographisch ausgerichtet ist und nicht die Funktion hat, einen nüchtern-kritischen Blick auf das Leben und Werk eines Übersetzers zu richten. Dafür müsste man auch Zugang zu dem jeweiligen Übersetzer-Nachlass haben. Aber welches Archiv hat sich um diese Nachlässe gekümmert – oder wird es in Zukunft tun?

Welche Übersetzer und Übersetzerinnen sollten im UeLEX im Lauf der nächsten Jahre in umfangreicheren Beiträgen vorgestellt werden? Die VdÜ-Zeitschrift enthält dafür reichlich Hinweise. Das Archiv lässt zusätzlich deutlich werden, dass in der Welt des Übersetzens nicht 5 nur die Übersetzer eine Rolle spielen. Man lese nur in Heft 1/2020 den von Renate Birkenhauer und Helga Pfetsch verfassten Nachruf auf Ursula Brackmann. Brackmann hat wohl nie übersetzt, aber sie hat durch fünf Jahrzehnte für die Interessen der Literaturübersetzer robust gestritten. Auch das muss als Form translatorischen Handelns in einer Kulturgeschichte des Übersetzens im 20. Jahrhundert festgehalten werden.

Und müsste dort nicht sogar unsere heutige Gastgeberin von der Heidelberger Stadtbücherei erwähnt werden, Beate Frauenschuh, der 2011 die „Übersetzerbarke“ des VdÜ verliehen wurde für das von ihr durch Jahrzehnte kuratierte Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm, das sehr stark auch das Literaturübersetzen berücksichtigt hat? (Vgl. Jg. 46, H.1 / 2011).

„Translatorisches Handeln“: Wer danach sucht, richtet sein Interesse nicht mehr nur auf die Frage, was zwei Texte in zwei Sprachen an Gemeinsamkeiten aufweisen müssen, damit der eine als Übersetzung des anderen betrachtet werden kann. Es geht dann auch um die Kontakte zu Verlagen, Lektoren und Kritikern, um die Aktivitäten des Deutschen Übersetzerfonds, um Netzwerke, Honorare, Stipendien und Literaturpreise, um die Mitgestaltung des Diskurses über das Übersetzen. In den Blick kommen ferner Orte des translatorischen Handelns. Das ist nicht nur der Schreibtisch im eigenen Arbeitszimmer, das sind auch die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, das Europäische Übersetzerkollegium in Straelen, das LCB am Berliner Wannsee, die von Helmut M. Braem begründeten Esslinger Gespräche und deren Nachfolgetreffen in Wolfenbüttel. Zu all dem lässt sich im Heft-Archiv hervorragend recherchieren.

Das Interesse der Germersheimer historischen Übersetzerforschung gilt primär einzelnen Übersetzern und ihrem jeweiligen translatorischen Œuvre und Handeln. Aber beim Stöbern im Heft-Archiv kam ich auf den Gedanken, dass man es auch einmal mit einer Kollektivbiographie versuchen könnte. In der müssten Informationen besonders zu jenen Übersetzern zusammengetragen werden, die sich dem Übersetzen als Hauptbeschäftigung verschrieben haben.

Welches Narrativ würde sich für eine solche Kollektivbiographie anbieten? Soll man eine Heldengeschichte erzählen über jene, die uns dank ihrer Übersetzungen Zugänge verschafft haben zu den zahlreichen Literaturen der Welt? Die im Bergwerk der Sprache das Deutsche immer wieder bereichert haben um neue Ausdrucksmöglichkeiten? Oder wäre eine Geschichte des Scheiterns zu schreiben? Die Geschichte eines aus literaturbesessenen Einzelgängern bestehenden Kollektivs, das ab den 60er Jahren in Westdeutschland den Versuch unternimmt, aus dem Literaturübersetzen eine Profession zu machen, einen Beruf, von dem man halbwegs anständig leben könnte und der einem auch noch eine halbwegs anständige Rente bescheren würde. Warum scheint es nach wie vor fast aussichtslos zu sein, vom ambitionierten Übersetzen anspruchsvollster Texte anständig leben zu können? Was ist da schief gelaufen?

Wobei die VdÜ-Zeitschrift freilich auch erkennen lässt, was die Übersetzerzunft selbst an Initiativen entwickelt hat, um nicht nur bei Verlagen für materielle Verbesserungen zu streiten, sondern um auch an öffentliche Mittel für die Übersetzerförderung heranzukommen. Auskunft darüber geben u.a. die Berichte aus den Jahren 2007 und 2018, in denen es um die Jubiläumsfeste zum zehn- bzw. zwanzigjährigen Bestehen des zunächst von Rosemarie Tietze geleiteten Deutschen Übersetzerfonds geht. Dieser DÜF hat bei Bund und Ländern sowie Stiftungen das Geld für eine Vielzahl an Arbeitsstipendien, an Reise-, Weiterbildungsund Mentorenstipendien eingeworben und trägt zudem zu verbesserten „Visibility“ des 6 Übersetzens bei, etwa durch die vom DÜF initiierte Dauer-Gastprofessur für Poetik des Übersetzens an der Freien Universität Berlin.

Für das eben beginnende Wintersemester 2021/22 konnte der DÜF Dank der Corona-Hilfsgelder auf einen Schlag 46 Übersetzerinnen und Übersetzer auf Gastdozenturen an philologisch ausgerichteten Instituten von 39 Universitäten vermitteln: von Greifswald bis Regensburg und München, von Frankfurt an der Oder über Hildesheim und Osnabrück bis nach Saarbrücken. Dem Wissen um das Tun der Übersetzer wird solch Ansturm auf unsere Universitäten hoffentlich einen gehörigen Schub verleihen. Warten wir’s ab. Dass sogar das Germersheimer Übersetzerlexikon und auch unsere heutige Veranstaltung von dem Berliner Corona-Geldsegen profitieren, sei dankbar vermerkt.

Ein letzter Aspekt: Bei meinen ersten Heftarchiv-Recherchen zu der Gruppe von professionellen freiberuflich-hauptberuflichen Literaturübersetzern stieß ich auch auf Berichte von Leuten, die vor 1989/90 in der DDR vom Übersetzen leben konnten. Sie wurden nach der Wende auf die Achterbahn der freien Marktwirtschaft geschleudert. Manche haben sich dort behaupten können und sind beim Literaturübersetzen geblieben. Sie haben sich im VdÜ engagiert und dann auch an dessen Zeitschrift mitgewirkt, Christa Schuenke etwa oder Andreas Tretner.

Gerade beim leidigen Ost-West-Thema hatte ich beim Stöbern im Archiv den Eindruck, dass in der nunmehr gesamtdeutschen Übersetzerzunft ein Maß an freundschaftlicher Kollegialität existiert, das man auf anderen Feldern unseres konkurrenzgetriebenen Kulturbetriebs so ausgeprägt nicht findet. Aber vielleicht ist das bei mir auch nur ein Wunschdenken oder mangelnde Vertrautheit mit der Szene.

Summa: Das Archiv der Zeitschrift namens Der Übersetzer bzw. Übersetzen enthält reichhaltiges Material, aus dem sich Bausteine für die einst zu schreibende Kulturgeschichte des Literaturübersetzens von etwa 1950 bis 2020 gewinnen lassen. Der Dank des Translationshistorikers dafür gilt den mehrere Generationen umfassenden Redakteurinnen und Redakteuren der Zeitschrift und heute insbesondere jenen, die für uns all das Material in einem digital frei zugänglichen und über Register und Suchfunktionen sehr gut erschließbaren Archiv zur Verfügung gestellt haben. Ich möchte versprechen, dass dieses Archiv eifrig genutzt werden wird.

¹ Helga Pfetsch und Rosemarie Tietze berichteten mir im Anschluss an den Vortrag, dass die Umbenennung der Zeitschrift nicht auf Initiative der neuen Redaktion erfolgt sei, sondern auf einen (auf mehreren Mitgliederversammlungen des VdÜ diskutierten) Antrag eines männlichen Verbandsmitglieds.

Tränen aus Straßburg. Zu einem der schönsten unbekannten Gedichte Johann Gottfried Herders

Für Henrik und Kristina Nikula auch

Johann Gottfried Herder


Mattes Auge, du trübst!
fliehst vom Stral ins Dunkle,
birgst dich, leidendes Auge,
ins Dunkle!

Matter Dämmrer! woher
trübst du? bist verweinet
leidendes, blaues Auge,
wie Abendhimmel!

Matter Dämmerer! nicht!
weine nicht mehr! starre nicht hin
ins Dunkel!
in Zukunft!

Schließe dich, sanftes Auge
starr’s nicht an!
Schlummre! sanftere Träume
werden dich umschweben!

Schwebt aus Dunkel hervor,
sanftere Träum’! Umschwebt sie!
aus dem Schoosse der Mitternacht!
der Zukunft!

Schwingt die Flügel! Umschwebt
die holde, zarte
trübe Seele!
mit Morgenroth! mit schönerer Welt!

Ich hör’ ihr Schweben! Sie kommen!
Schließe dich, sanftes Auge!
Schlummre! Sie kommen tröstend!
Starr sie nicht an, die Mitternacht.

Von einem verweinten und leidenden Auge wusste Herder wohl ein Lied zu singen, als diese sieben Strophen in freien Rhythmen im Februar/März 1771 in Straßburg entstanden. Denn dort hatte sich der frischverlobte 26jährige bei dem hochberühmten Chirurgen Lobstein immer neuen Operationen unterzogen, um ein Augenleiden loszuwerden, das ihn seit der Kindheit plagte und sein Gesicht entstellte. Bei der „schmerzlichen, höchst verdrießlichen und unsicheren Operation“ assistierte – auf Abhärtung seiner Nerven bedacht – ein damals noch gänzlich unbekannter Frankfurter Jurastudent. Vierzig Jahre später beschreibt dieser in seinem autobiographischen Prosabuch Dichtung und Wahrheit das Augenübel seines Straßburger Mentors:

„Das Tränensäckchen nämlich ist nach unten zu verschlossen, so daß die darin enthaltene Feuchtigkeit nicht nach der Nase hin und um so weniger abfließen kann, als auch dem benachbarten Knochen die Öffnung fehlt, wodurch diese Sekretion naturgemäß erfolgen sollte. Der Boden des Säckchens muß daher aufgeschnitten und der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den Tränenpunkt, ferner durch das eröffnete Säckchen und durch den damit in Verbindung gesetzten neuen Kanal gezogen und täglich hin und wider bewegt wird, um die Kommunikation zwischen beiden Teilen herzustellen, welches alles nicht getan noch erreicht werden kann, wenn nicht erst in jener Gegend äußerlich ein Einschnitt gemacht worden.“

Höchstens drei Wochen hatte Professor Lobstein im Herbst 1770 für die Kur veranschlagt. Eine Woche lang trägt Herder im abgedunkelten Zimmer eine Bleistange in der Nase, aber der „neue Kanal“ will nicht funktionieren. Weitere Operationen werden angesetzt, weitere Chirurgen hinzugezogen. Ende März 1771 klagt Herder in einem der letzten seiner Straßburger Briefe über das endlose

„Maddern“ an Auge und Nase: „Aus den drei Wochen sind nicht bloß zweimal drei Monate, sondern aus einem Schnitt und einer Nasenbohrung sind wohl 20 Schnitte und 200 Sondierungen geworden, und endlich nach allen Schmerzen, Kosten, Unruhen, Verdrüßlichkeiten etc. ist mein Auge ärger, als es war! Daß ich Materie gnug hätte, eine höchst tragischlustige Epopee oder Ophthalmomachie zu schreiben! […] Was ich am meisten bedaure, ist, durch solche erbärmliche Situation weder Straßburgs noch aller Nachbarschaft umher froh geworden zu sein.“

Es sind diese, von Goethe in allen Details überlieferten, ophtalmologischen Komplikationen, die Herders bedeutendsten Biographen, Rudolf Haym, veranlasst haben, das Gedicht auf Herders eigenes Auge zu beziehen. Aber das ist falsch. Es geht nicht um sein Auge, sondern um die Augen seiner Geliebten, Karoline Flachsland. Die hatte ihm aus Darmstadt nach Straßburg regelmäßig geschrieben, meist sehr ausführlich, aber dann auch mal einen nur kurzen Brief, und sie hatte das mit den Worten entschuldigt: „Erlauben Sie, daß ich Ihnen vor dies mal nur ein paar Zeilen schreibe. Das Licht meiner Augen, das diesen Winter durch viel gelitten, will mir jetzt den Dienst [des] Nachtschreibens versagen. Ich schone meine matten blauen Augen, – – das Licht thut mir wehe!“ Darauf antworten Herders Verse Mattes Auge, du trübst!

Und sie tun es in größter innerer Bewegung. Sie evozieren das Auge der Geliebten, die um Mitternacht an ihn schreibt, dann aber die schmerzenden Augen vom Lichtstrahl abwendet und gedankenverloren ins Dunkel starrt. Aber das soll sie, so ruft das Gedicht ihr zu, nicht tun. Denn dieses Dunkel der Mitternacht wird sie fälschlich für ihre Zukunft halten – dort soll sie nicht hinschauen. „Starr’s nicht an!“ heißt es genau in der Mitte des Gedichts und dann folgt schon der Wunsch:

„Schlummre! sanftere Träume / werden dich umschweben!“ Tröstende Träume, die von Morgenrot und schönerer Welt künden, vom Zusammensein wohl mit dem noch entfernten Geliebten. Durch dreieinhalb Strophen werden die Träume herangerufen. Wie Engel sollen sie ihre Flügel um die holde Seele schwingen. Beschwörend spricht Herder zu seiner Geliebten, 25 Ausrufezeichen sind in die 28 Verse gedrängt, nur einmal, ganz am Schluss, wird ein schlichter Punkt gesetzt, so dass die Wiederholung des mittleren Verses fast resignierend klingt, das „Starr sie nicht an, die Mitternacht.“

Als „Gelegenheitsstück“ aus Herders Straßburger Krankenstube ist das Gedicht abgetan worden. Aber es ist ein großes Liebesgedicht – geschrieben in Klopstockscher Manier an der Schwelle zwischen Empfindsamkeit und Sturm und Drang, drei Jahre bevor der junge Werther in „wonnevollste Tränen“ ausbrechen wird, als Lotte ihm nach dem vorübergezogenen Gewitter wie eine „Losung“ den Namen „Klopstock“ zuraunt.

Pilgerfahrt ins Land der Poesie

Die An- und Umtriebe des Übersetzers Richard Pietraß

(Laudatio auf Richard Pietraß aus Anlass der Verleihung des Übersetzerpreises Ginkgo-Biloba für Lyrik im Hilde-Domin-Saal der Stadtbücherei Heidelberg, 30. September 2020)

Der Schriftsteller und der Übersetzer, der Dichter und der Nachdichter Richard Pietraß hatte seine ersten weiterhin sichtbaren Veröffentlichungen in drei einander folgenden Ausgaben einer von Bernd Jentzsch herausgegebenen Lyrikreihe namens Poesiealbum. 90 Pfennige kosteten die Hefte und sie wurden in einer Auflage von 10.000 Exemplaren nicht nur in Buchhandlungen, sondern sogar und vor allem an Zeitungskiosken verkauft. Jeden Monat gab es ein neues, eine neue Stimme im Chor der Lyrik. Im Heft Nr. 81 mit Gedichten Marina Zwetajewas erschien im Juni 1974 Pietraß‘ erste Übersetzung aus dem Russischen, in Heft 83 seine Nachdichtung eines Lappland-Poems des norwegischen Dichters Nordahl Grieg und in Heft 82 wurde Richard Pietraß im Juli 1974 mit eigenen Gedichten vorgestellt.

Worum es ihm in seiner Poesie geht, steht auf der Innenklappe des Heftes vom Juli 1974: „Das Leben trifft uns, wie uns wahre Kunst betroffen macht. Daraus entstehen Gedichte. Immer gilt es, den Raum des Sagbaren, letztlich Lebbaren, zu erweitern.“ Ein Mittel, diesen „Raum des Sagbaren […] zu erweitern“, wurde für ihn neben den eigenen Gedichten auch das Übersetzen und das Nachdichten. Dabei schärfte er mitunter die Aussage der Originale und ließ so die Aktualität eines Gedichts etwa von Boris Sluzki oder Nikolai Sabolozki aufblitzen.

In den Poesiealben vom Juni und August 1974, die von Fritz Mierau (Zwetajewa) und Sieglinde Mierau (Grieg) zusammengestellt wurden, ist Pietraß mit jeweils nur einem Gedicht vertreten; die anderen wurden von anderen Dichtern ins Deutsche gebracht, von Heinz Czechowski, Adolf Endler, Elke Erb, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch und Reiner Kunze. Sie alle werden der Sächsischen Dichterschule zugerechnet. In unseren Literaturgeschichten fehlt allerdings ein Kapitel, das auch die herausragenden übersetzerischen Leistungen der Sächsischen Dichterschule in den Blick nähme. Richard Pietraß, 1946 im sächsischen Lichtenstein geboren, gehört zu denen, die man dazu noch befragen kann.

Begonnen hat er mit dem Gedichteschreiben hinter Kasernenmauern in der „Erlebnisarmut“ seines Grundwehrdienstes. Als „Geschenk der Erniedrigung“ erinnert er diesen lebensgeschichtlichen Kippmoment aus dem Ende seiner Militärzeit in Vorpommern. Während des 1968 an der Humboldt-Universität aufgenommenen Studiums der Klinischen Psychologie fand er Anschluss an literarische Zirkel, etwa den Lyrikclub Pankow: „Jeden Donnerstag konnte man dort hingehen, Gedichte vorlesen und über Gedichte debattieren, nicht nur über selbstgeschriebene, sondern auch über Lyrik von García Lorca oder was man sonst noch großartig fand.“

Einen ansteckend hartnäckigen Überschwang hat sich Pietraß durch die Jahrzehnte in seinem Umgang mit deutscher wie ausländischer Poesie bewahrt. Das mag auch daher kommen, dass er weder Germanistik noch eine Fremdsprache hochschulsystematisch studiert hat. Er musste sich daher nicht um jenes „puristische Feldgeschrei“ kümmern, wonach Leben und Werk eines Autors stets und strikt getrennt zu halten seien. Für Pietraß sind die Lebenswege eines Autors wichtig, denn sie können – zusammen mit dem poetologischen und zeitgeschichtlichen Kontext – eine Brücke bilden zum Werk.

Nicht nur die Biographie meint das im Sinne einer Reihung von Lebensdaten, sondern auch das Aufsuchen jener Orte, an denen jene gelebt haben oder noch leben, deren Gedichte er übersetzen wollte. „Pilgerfahrten“ oder auch „Wallfahrten“ nennt er diese Reisen. Mehrfach hat er über sie Auskunft gegeben: Über die Reise etwa nach Russland im Glasnost-und-Perestroika-Winter 1988, wo er sich in Peredelkino für die Übersetzung der Pasternak’schen Gedichte Juri Shiwagos Mut zu machen suchte – „durch Beschnuppern, durch Augenschein“. Liest man den tagebuchartigen Bericht über diese Reise, so ahnt man, worin der Ertrag des Aufsuchens der Datscha des 1960 verstorbenen, kurz zuvor zur Ablehnung des Nobelpreises genötigten russischen Dichters für seinen deutschen Nachdichter bestanden haben mag. Hamlet heißt das erste der fünfundzwanzig Shiwago-Gedichte:

Hamlet

Der Lärm verebbt. Ich trete auf die Bühne.
Und gelehnt ans Pfostenholz der Tür,
Erlausche ich im Nachhall ferner Töne,
Was im Leben noch geschieht mit mir.

Durchs Visier von tausend Operngläsern
Starrt auf mich des Raumes Dunkelheit.
Abba, Vater, wenn es möglich wäre,
Lenke diesen Kelch an mir vorbei.

Zwar liebe ich dein eigensinnig Planen
Und bin, meinen Part zu spielen, gewillt.
Dieses aber ist ein andres Drama,
Diesmal, bitte, schon dein Ebenbild.

Fest gewickelt ist die Handlungsspule,
Und die Tore sind aufs End gestellt.
Ich bin allein: im Pharisäerrudel.
Leben ist kein Gang durch freies Feld.

Bis in Silbenzahl und Lautstruktur folgt der Nachdichter dem russischen Original. Dass er für die Reime und Assonanzen sinntragende Wörter wählte, ist ein Merkmal seines Dichtens und Nachdichtens, gleich den Sinnballungen wie hier in den neuen Wörtern „Pfostenholz“, „Handlungsspule“ und „Pharisäerrudel“. Mit den Anklängen an „Wolfsrudel“ und Das Jahrhundert der Wölfe evoziert dieses eine letzte Wort – „Pharisäerrudel“ – die Gefährdung Pasternaks im 1958 über ihn hereingebrochenen Nobelpreis-Gewitter.

* * *

Erinnerungsgesättigt ist auch der Bericht über eine weitere Pilgerreise, die er ebenfalls noch im Dezember 1988 unternahm. Sie führte ihn auf leicht abenteuerlichen Wegen an einen verwunschenen Ort auf der Karelischen Landenge, nach Roschtschino nahe der finnisch-sowjetischen Grenze. Raivola hieß dieser Ort vor dem Krieg, als Viborg und die Karelische Landenge noch zu Finnland gehörten. In Raivola schrieb die 1923 im Alter von nur 31 Jahren in schlimmster Armut verstorbene Edith Södergran ihre elegischen und ekstatischen Verse vom Land, das nicht ist. 1988, ein halbes Jahrhundert nach Gunnar Ekelöfs Wallfahrt an den Lebens- und Sterbeort der finnlandschwedischen Dichterin, kam Pietraß

„[…] in eine Zeit, der ihre eigene Vergangenheit nicht mehr ist als ein kaum merklicher Schatten. So wußte ich mehr als ich sah. Dieses aber gesehen, den Platz erreicht zu haben, auf dem Edith Södergran aufwuchs, lebte und litt, klagende und kühne Verse schrieb und ihre hochfliegenden Pläne schmiedete, bedeutet mir viel. Zur inneren Anschauung durch ihre Gedichte, Briefe und die Berichte anderer trat so die äußere, die allem die Aura des Authentischen verleiht und es mir erleichtert, die Welt ihrer Gedichte und die Umstände ihres Strebens und Sterbens als Ganzes vor Augen zu haben.“

So liest man es im Nachwort der 1990 bei Reclam in Leipzig erschienenen Södergran-Ausgabe Klauenspur – Gedichte und Briefe. Am Anfang der von Pietraß herausgegebenen Klauenspur steht der fünfzig Jahre zuvor von Gunnar Ekelöf geschriebene Raivola-Bericht. Das Södergran-Buch, das uns deutschen Lesern ganz einzigartig Södergrans Streben und Sterben als Ganzes erfahren lässt,wurde in den Wirren der Wendezeit kaum wahrgenommen. Es blieb in der Randlage: „Wohin ich Habnicht sehe / Sieht mich das Ende an. / Ich stehe und verstehe. / Wende sich, wer kann.“

1975 wurde Richard Pietraß Lyriklektor im Verlag Neues Leben. Und bald auch Lyrik-Redakteur der neuen, Grenzen des Sagbaren überschreitenden Zeitschrift: Temperamente. Blätter für junge Literatur. 1977 übernahm er zusätzlich als Nachfolger des nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns in der Schweiz gebliebenen Bernd Jentzsch die Herausgabe des Poesiealbums. „Die Stelle [im Verlag Neues Leben] war genau das, worauf ich unbewusst immer gewartet hatte. Es schien mir traumhaft, mich Tag um Tag mit Gedichten beschäftigen zu können und dafür noch bezahlt zu werden.“

Aber ganz so traumhaft war die Arbeit im Verlag dann doch nicht. Er wurde mit unverlangt eingesandten Gedichten förmlich überhäuft. Und immer wieder, verschärft nach der Biermann-Ausbürgerung im November 1976, gab es ideologisch motivierte Behinderungen seiner Lektoratsarbeit. So hat Pietraß an elf Heften der Temperamente mitgewirkt, nur fünf davon durften erscheinen. 1979 war das Maß voll. Dem Lektor wurde „in einer […] Nacht-und-Nebel-Aktion“ gekündigt. Der Verlagschef hielt ihm seine Verfehlungen vor:

„’Nichts gegen Ihre Begeisterung für Poesie. Die haben wir wohl bemerkt und wissen wir zu schätzen. Aber in einer Zeit des sich zuspitzenden Klassenkampfes bieten Sie nicht die ausreichende Gewähr zur kommunistischen Erziehung der jungen Generation.‘ Tödliche Sätze, gegen die es, das spürte ich, kein Rechtsmittel gab. Da ich kein Michael Kohlhaas werden wollte, räumte ich das Feld.“

In den Westen ist Pietraß nicht gegangen, er blieb lieber die „Laus im Staatspelz“. Er wurde freischaffend, 1981 auch Mitglied des Schriftstellerverbandes. Stephan Hermlin und Elke Erb haben für ihn gebürgt, wobei Hermlin dem dreißig Jahre jüngeren Kollegen bescheinigte, über „ausgezeichnete Kenntnisse [zu verfügen], was die Situation der Weltlyrik angeht.“ In Elke Erbs persönlich gehaltener Bürgschaft hieß es u.a.:

„Wahrhaftig, authentisch […] wie die eigenen Gedichte sind auch seine Nachdichtungen: Übersetzungen in das eigene Medium, erfreulich unmittelbare (selbständige) Kontaktaufnahmen […] Als Mittler von Literatur hat Pietraß vor allem in der Redaktion der Reihe Poesiealbum Hervorragendes geleistet.“

Aus übersetzungshistorischer Sicht kann man die politische Entlassung aus dem Verlag Neues Leben als Glücksfall betrachten. Denn Pietraß konnte als Freiberufler – mithin unbeschwert durch institutionelle Subordination – nun das betreiben, was er als seine „Dreifelderwirtschaft“ charakterisiert hat: Das Schreiben von Gedichten, das Herausgeben und das Übersetzen von Gedichten. Das Übersetzen, so schildert er es im lebensgeschichtlichen Rückblick,

„gab mir in den achtziger Jahren Brot und was drauf. Dabei konnte ich zunehmend wählen, so daß ich es mir zum Prinzip machte, nur solche Gedichte zu übersetzen, die mir so gefielen, daß ich sie gern selbst geschrieben hätte. Wie ein Schauspieler manchmal auf Zeit Hamlet wird, schlüpfte ich versuchsweise in eine andere Identität. Das ist eine intensive Erfahrung, quälend genußvoll.“

* * *

Will man sich einen Überblick über sein übersetzerisches Werk verschaffen, so begibt man sich am besten an den Leipziger Standort der Deutschen Nationalbibliothek. Denn dort findet man am ehesten Exemplare all der Lyrik-Anthologien und Literaturzeitschriften, in denen seine Nachdichtungen veröffentlicht wurden. Dort finden sich die Poesiealben, in denen er u.a. Eugenio Montale, Julian Przyboś und Sándor Weöres vorgestellt hat. Dort findet sich die Weiße Reihe des Verlags Volk und Welt, in der bis 1990 über hundert Bände mit aus zwei Dutzend Sprachen übersetzten Gedichten erschienen sind, an mehreren davon war Pietraß beteiligt. Und dort finden sich Lyrik-Anthologien, die in den achtziger Jahren von den philologisch geschulten, für verschiedene Sprachen zuständigen Lektorinnen des Reclam-Verlags Leipzig betreut wurden, von Gabriele Bock, Monika Heinker, Birgit Peter und Helgard Rost.

Sie gehörten zu seiner eigenen Generation und erkannten, wie in seinen Gedichten der „Raum des Sagbaren“ beharrlich erweitert wurde – in den bei Aufbau erschienenen Bänden Notausgang (1980), Freiheitsmuseum (1982) und Spielball (1987). Und weil sie ihn als Dichter schätzten, bemühten sie sich um ihn als Nachdichter: Er übersetzte die Berliner Elegien von Gunnar Ekelöf, geschrieben 1933: „Die Haßzeit ist gekommen“, „Die Mordzeit ist gekommen“, „Die Zeit der Verachtung ist gekommen“, „Die Zeit der Kehlen ist gekommen“. Lektoriert wurde der Ekelöf-Band von der Skandinavistin Birgit Peter, mit der Pietraß zwischen 1986 und 1990 auch die Södergran-Auswahl erarbeitet hat. Mitgewirkt hat er ferner an Leipziger Reclam-Anthologien mit polnischer, tschechischer, ungarischer und französischer Dichtung.

Eine regelrechte Arbeitsfreundschaft verband ihn durch ein Jahrzehnt mit Gabriele Bock, die bei Reclam u.a. Übersetzungen aus dem Englischen betreute. Gedichte von Yeats, Auden, Thom Gunn, Ted Hughes und Seamus Heaney wurden von Pietraß ins Deutsche gebracht. Die Lektorin war eine gründliche Leserin, die den Nachdichter auch auf Passagen hinwies, die ihr „anglistisch nicht vertretbar“ erschienen. Die Zusammenarbeit zwischen Pietraß und den Lektorinnen lässt das Wichtigste im damaligen Umgang zwischen Verlagen und ihren Nachdichtern erkennen: Man nahm sich Zeit. Man hatte Respekt vor dem poetischen Talent der Übersetzer und man brachte philologische Sachkenntnis ein, auf die sich wiederum die nachdichtenden Lyriker verlassen durften. „Gern ging ich in solchem Gespann“ mit den „herrlichen Animateuren, Ochsentreibern und Gütekontrolleuren“, notierte Pietraß 2007 und hielt einmal mehr fest, „daß noch wichtiger als das Beherrschen der fremden die Meisterschaft in der eigenen Sprache ist. Sonst mindert man Größe zur Blöße. Also doch lieber Hermlin und Fühmann als der forsche Jetztgehichran.“ Keine reine Freude bereitet Pietraß die Praxis jener „ehrgeizigen, verdienstvollen Monopolisten“, die in schweren Ziegeln das vielbändige Gesamtwerk eines Dichters in ihr nicht stets meisterhaftes Deutsch bringen: „Steinbrucharbeiter, die Berge versetzen. Und doch lechzt unser Ohr nach dem Wenigen der Großen: Bachmann, Rilke, Celan.“

Bei Reclam Leipzig erschien 1987 in Pietraß‘ Nachdichtung Seamus Heaneys Norden / North. „Wenn es einer schafft“, ermunterte die Lektorin den Nachdichter im Jahr zuvor, „den Kampf mit Heaney aufzunehmen, bist Du es.“ Und dass das ein Kampf war, hat Pietraß nicht in eine der abgenutzten Metaphern vom Fährmann oder Brückenbauer gebracht, sondern er prägte ein treffenderes Bild des Übersetzungsvorgangs:

„Es war ein Gang übers Moor. Links und rechts meines abgründigen Pfades glucksten die Laute und Bedeutungen, irrlichterten Redewendungen und ‚false friends‘. Neben den hilfreichen Anmerkungen der Lektorin […] blieb mir als Moorführer mein poetischer Instinkt. Sackte ich dennoch ins Bodenlose, half […] nur noch der Griff nach dem eigenen Zopf.“

Zu bedenken ist beim Bild vom Übersetzen als einem „Gang übers Moor“, dass Pietraß keinen Kontakt zu Muttersprachlern aufnehmen konnte und ihm zu Beginn seiner Arbeit an englischen Texten nicht einmal das unentbehrliche Wörterbuch von Muret/Sanders zur Verfügung stand. Das Englische war immerhin neben dem Russischen Schulfach gewesen auf der Oberschule in Lichtenstein. Zusätzlich hatte er sich

„im Alter von 17 Jahren in den Sommerferien […] einen 300-seitigen Roman über die Entwicklung der Atombombe [in den USA vorgenommen], bei dem Liebe und Spionage im Mittelpunkt standen […]. Ich habe jeden Tag alle Wörter notiert, die ich nicht kannte. Am Anfang waren es 35 Wörter pro Seite. Ich mußte fast jedes Wort aufschreiben. Es war eine verzweifelte Arbeit, jeden Tag acht Stunden. Aber ganz allmählich wurden es weniger, zum Schluß waren es nur noch zwei Wörter pro Seite. Auf diese Weise habe ich in zwei Wochen 2000 Vokabeln gelernt. Diese 14 Tage waren sozusagen mein Intensivkurs in Englisch. […] Erst 1990 hatte ich Gelegenheit, ein englischsprachiges Land zu besuchen.“

Auch Irland hat er Mitte der neunziger Jahre besucht. Er erkundete Heaneys Geburtsort und Kindheitslandschaft im Norden der Insel, sah die „Vergitterungen und Maschinengewehrläufe“ an der inneririschen Grenze, traf Mitglieder der Heaney-Familie und später in Dublin den Dichter selbst. Der las ihm „die gewünschten Gedichte“ vor, darunter die beiden Ars-poetica-Texte The Diviner und das „Generationen- und Spatengedicht Digging, Auftakt seines ersten Bandes und zugleich Kammerton seines Kernwerks.“ Die Schlußstrophen lauten in der Nachdichtung:

Bei Gott, der Alte konnte mit dem Spaten.
So wie einst sein Alter

Mein Großvater stach mehr Torf pro Tag
Als jeder andre Mann im Tonermoor.
Einst brachte ich ihm Milch in einer Flasche,
Die lässig mit Papier verstöpselt war. Er richtete
Sich zum Trinken auf, dann fuhr er fort,
Sorgsam zu kerben und zu teilen, warf Rasenstücke
Über seine Schulter, suchte guten Torf
Und kam, grabend, immer tiefer.

Der kühle Duft von Kartoffelerde, das Platschen
Und Klatschen des nassen Torfs, die scharfen Schnitte
Des Blatts durch frische Wurzeln werden in mir wach.
Doch fehlt mir der Spaten, solchen Männern zu folgen.

Zwischen Finger und Daumen
Liegt flach meine Feder.
Mit ihr werd ich graben.

Der verwaiste Spaten steht über dem 2015 in Sinn und Form veröffentlichten Bericht, in dem Pietraß seine Begegnung mit Seamus Heaney erinnert. Er schildert dort auch, wie er 1995 die Akademie in Stockholm und das Nobelkomitee in robusten Worten aufgefordert hat, bei der Versendung der raren Einladungen zur Überreichung des Literaturnobelpreises die Übersetzerzunft nicht zu vergessen, sie nicht hinter all jenen Diplomaten und Potentaten zurückstehen zu lassen, die frackgewandet der Krönungszeremonie zuschauen dürfen.

Das ist keine schlechte Frage, die Pietraß da 1995 aufgeworfen hat: In welchem Umfang mögen die Mitglieder des Nobelkomitees bei ihren Entscheidungen auf Übersetzungen angewiesen sein? Und das nicht nur bei Preisträgern, die ihre Werke auf Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Türkisch oder Ungarisch geschrieben haben. Selbst bei einem Dichter wie Seamus Heaney könnte es eine Weile gedauert haben, bis man sich in Stockholm in sein nicht leicht zu verstehendes Englisch eingelesen hatte. Die Germersheimer Diplom-Übersetzerin Claire McTague, die wie Heaney aus dem Norden Irlands stammt, erzählte 1996 in einem Gespräch mit Richard Pietraß, dass sie beim Lesen der Heaney-Gedichte mitunter hilfesuchend in die deutsche Übersetzung geschaut habe, um das Original zu verstehen.

Nicht jede seiner Wallfahrten an die Orte der von ihm übersetzten Dichter hat Pietraß in einem Bericht festgehalten. Das gilt etwa für seine Begegnung mit Ted Hughes, den er Anfang der achtziger Jahre für Reclam übersetzt hat. 1994 traf er ihn auf dem Lyrikfestival im mazedonischen Struga am Ohridsee und bekam von ihm die Adresse in England. 1999, wenige Monate nach Hughes‘ Tod, reiste er an Hughes‘ letzten Lebensort, suchte das Grab, das es nicht gab, weil es nicht von hasserfüllten Feministinnen geschändet werden sollte wie das von Sylvia Plath Hughes: „Mir blieb, dir ins Wortland zu folgen“, heißt es in dem Ted Hughes gewidmeten, erlebnisgedeckten Porträtgedicht: „Erschaffen / Hast du den Otter, die Eule, die göttliche / Krähe. Ein Gatter knarrte, ich stand / Am irdischen Ufer des Taw. Schwarze / Tinte verströmend, schreibt er sich schnörkelnd / Ins Land […].“

Ein weiteres brüderlich gestimmtes Porträtgedicht hat Pietraß auf den Dichter Tomas Tranströmer geschrieben: Die Treppen von Bratislava. Vier Gedichte hatte er Anfang der achtziger Jahre für den in der Weißen Reihe verlegten Band Formeln der Reise übersetzt. 1986 und später erneut konnte er ihn und Monica Tranströmer in Västerås besuchen. Im November 2000 brachte er in Visby Übersetzer aus den Ostseeanrainerregionen sowie aus Japan zu einem „drömseminarium“, einem Traumseminar zusammen, auf dem Tranströmer-Gedichte in sieben Sprachen übersetzt wurden. Der schwedische Dichter, seit Jahren nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und des Sprechens kaum noch fähig, kam mit seiner Frau nach Gotland herübergeflogen. „Det är mycket bra – das ist sehr gut“ mag er gesagt haben, als er das siebenfache Echo seiner Poesie vernommen hatte, diesen Satz, der ihm nach dem Schlaganfall verblieben war: „Det är mycket bra.“

Im September 2011 besuchte Richard Pietraß die Tranströmers noch einmal, jetzt in Stockholm, wo er mit Monica Tranströmer eine Karikaturzeichnung des rumänischen Dichters Marin Sorescu fand für jene Gedicht-Auswahl, die in der wiederbelebten Poesiealbum-Reihe erscheinen sollte. Als das Heft 2012 gedruckt wurde, konnte der Verleger auf dem Umschlag vermerken: „Nobelpreis 2011“. In dem Reisebericht Flug in die Stille hat Pietraß den Besuch beschrieben – samt seinen Erkundungen in Tranströmers Stockholmer Kindheits- und Jugendkiez Södermalm und auch auf der Insel Runmarö, deren „kindheitsher leuchtende Schönheit aus vielen [seiner] Gedichte spricht.“ Das Porträtgedicht entstand 1998 nach einer Begegnung in Bratislava, wo dem schwedischen Dichter der Ján-Smrek-Preis verliehen wurde.

Die Treppen von Bratislava

Für Tomas Tranströmer

I
Daß Gehen Fallen ist,
Verhindertes Fallen, nie
Wurde ich daran so erinnert

Wie auf den Treppen des Primaten-
Palasts, die du hinabstiegst
Auf deinen ungleichen Beinen,

mehr sankst und sacktest,
aber aufrecht wie ein die Evolution
mit Zähnen und Klauen verteidigender

Hominide, in der Hosentasche
den Talismann, den ersten behauenen
Stein. Sacktest und sankst,

daß ich meinte, dich auffangen
zu müssen, ein Feuerwehrmann,
der mit seinem Sprungtuch auf den Verzweifelten

wartet. Du aber hieltst die Zähne
zusammen, die zitternden Knie und fielst,
kontrolliert, aufrecht Stufe um Stufe,

gestützt auf deinen dünnen Stock
und Monikas aufrichtige, aufrichtende Nähe. Du kamst
hinunter, wie du hinaufgekommen warst,

ein trotziger Homo sapiens, der das Un-
mögliche in kleinste Schritte
zerlegt wie der Fließbandingenieur

das aus einer Unzahl von Handgriffen
zu montierende Wunderwerk des Autos
oder die mondumrundende Kapsel.

II

Einmal sah ich dich, in Västerås,
als du auf das Klavier zustürztest
und der Hocker fing dich auf.

Mit dem ersten angeschlagenen Ton
betratst du das Reich der Musik
in dem du gleichsam auf Händen

gingst, auf deiner gesunden
Hand. Draußen lag staubfeiner Schnee,
der in der Sonne glitzerte.

Und es wuchsen aus Tönen und Flocken
dir prächtige Schwingen, die dich entführten
in Sphären, die mir verschlossen sind.

Tranströmer, Heaney, Södergran, Pasternak, Zwetajewa – von keinem von ihnen hat Pietraß je alles übersetzen wollen. Aber sie alle wurden für ihn zu Lebensthemen und ihren Lebenswegen hat er sich immer wieder zugewandt: in realen Pilgerschaften, aber auch in unerfüllten, erträumt-erwünschten, etwa nach Jelabuga in Tatarstan, wohin Marina Zwetajewa 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit ihrem Sohn Mur evakuiert wurde und wo sie „ihrem Leben am lang schon gesuchten Haken ein Ende setzte“. Ihr Sohn starb neunzehnjährig im Sommer 1944 als Sanitätssoldat in Weißrussland im Krieg gegen die deutsche Wehrmacht. Zwetajewas Leichnam wurde in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Seit 1974 hat Pietraß Gedichte der Zwetajewa ins Deutsche geholt. 2018 schrieb er das Gedicht einer unerfüllten, brüderlich gestimmten Pilgerfahrt an ihren fernen Todesort:

Abort

Bäume, Waisen des Winds
Wurzeln, würgend nah.
Wo Tote vergessen sind
Hechelt kein Heureka.

Flechten, federndes Moos
Gewölle des Nirwana.
Marina, weißer Delphin
Im Lehmfjord Jelabuga.

Trau meinem Tritt auf der Karte
Vernimm meinen maulfaulen Gruß
Wo das Blut dir erstarrte
Am Haken der kranken Rus.

Werd ich dich nicht treffen
Zwischen Traum und Port
Bleibt mir, die Segel zu reffen
Deinem streunenden Wort.

Nach Jelabuga konnte Pietraß nicht gelangen, aber an ihrem langjährigen Exilort ist er ihren Lebensspuren nachgegangen: in Paris. Daraus ist 2019 Der Drang nach Haus entstanden, veröffentlicht als Nachwort im gleichnamigen Heft der Friedenauer Presse mit Zwetajewas Gedichten aus ihrem Exil. In Erinnerung gebracht sind dort auch die Übertragungen der in Berlin, Prag und Paris entstandenen Zwetajewa-Gedichte durch Elke Erb, Sarah Kirsch, Karl Mickel und Richard Pietraß.

Paris – dorthin reist er seit 2008 regelmäßig. Das hat natürlich mit Liebe zu tun, mit Gabriele Wennemer, die Pietraßens Pariser Lust gemeinsam mit Alain Lance ins Französische übersetzt hat: Au Plaisir de Paris, 2011 in 300 Exemplaren von Ulrich Keicher veröffentlicht.

Dem Paris-Erlebnis verdankt sich auch die Nachdichtung des apollinaire’schen Pont Mirabeau. Wer Freude hat am Vergleichen, mag Pietraß‘ Version neben früher entstandene halten, etwa die von Enzensberger, und er wird staunen, wie Pietraß seine Vorgänger an Reimkunst, Ballung der Wortfolge und Verstärkung der einzelnen Bilder kräftig überbietet:

Pont Mirabeau

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine
Und unsre Liebe dahin
Weiß ich wenn ich mich gräme
Stets folgten Freuden der Träne

Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

[…]

Die Liebe zerfließt wie tanzendes Naß
Die Liebe zerfließt
Wie das Leben verblaßt
Im Feuer der Hoffnung verpraßt

Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Es fliegen die Tage fliehen die Wochen
Nichts kehrt zurück
Nicht die Zeit die Liebe zerbrochen
Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine

Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile

Von Jürgen Engler auf seine Arbeit als Übersetzer angesprochen, sagte Pietraß vor zwei Jahrzehnten: „Meine mitspürende Spannweite ist groß, kapituliert aber vor fremden Kulturen wie denen Asiens und Afrikas. Europäisches, ja auch europäisiert Amerikanisches bleibt mir einfühlbar, sogar wenn ich die Sprache nicht spreche.“

Es wäre an der Zeit, die seit bald einem halben Jahrhundert entstandenen, arg verstreut veröffentlichten Nachdichtungen des Richard Pietraß sowohl aus jenen Sprachen, die er spricht, wie aus denen, die er „kaum radebricht“, zusammenzutragen, sie zu lesen und in einem Auswahlband neu vorzustellen. Gang übers Moor – Nachdichtungen aus fünf Jahrzehnten, so könnte der Titel dieses Buches lauten. Und auf dem Schutzumschlag sollte stehen: Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik 2020.

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Von Ihm zu ihm

Deckblatt Von Ihm zu ihm

Von IHM zu ihm. Eine Jugend in Königsberg.
Roman
Queich-Verlag ∙ September 2011 ∙ 390 Seiten
ISBN 393-9-20707-1

„Nach einigem Stöbern in der schwarzen Holzkiste bemerkte ich jedoch, wie sich mein Urteil über diese Geschichte und meinem Vater zu verschieben begann.
Habe ich überhaupt noch das Bedürfnis, ein Urteil, einen Schuldspruch über ihn und in toto zu fällen? Über den am 8. Dezember 1919 geborenen ostpreußischen Baptistensohn, dem Hitler als neuer Messias erschien? Ich mochte und ich mag nicht mehr. Ich mag nicht mehr gegen ihn stehen und pausenlos urteilen, ohne zu verstehen.
Kann man sagen: Ich will mit ihm und aus seiner Zeit heraus in sein noch unbekanntes Morgen blicken? Aber wie sollte das funktionieren? Mit all dem angehäuften Wissen des Spätgeborenen über die monströsen Untaten ihrer Zeit? Ich weiß es nicht. Ich weiß heute nur, an Kuno Sottkowskis 90. Geburtstag, dass ich mich dafür zu ihm stellen müsste, zu meinem Vater und zu seinen Leuten, zu unseren Leuten. Ich müsste sie anschauen und ohne stetes Vorgreifen von ihnen berichten, von ihrem Alltag und ihrem Sonntag, ihren Phantasmen und Enttäuschungen, von ihrem Taumeln und Irren, von unserem Glauben, von ihrem Scheitern und von seinem bösen Tun.
Ich weiß, es ist spät. Aber ich wollte es versuchen. Und der Anfang, der Anfang dieses Berichtes – oder meinetwegen auch Romans – über die Heldenjahre meines Vaters Kuno Sottkowski, dieser Anfang war gar nicht so schwer.“