Die An- und Umtriebe des Übersetzers Richard Pietraß
(Laudatio auf Richard Pietraß aus Anlass der Verleihung des Übersetzerpreises Ginkgo-Biloba für Lyrik im Hilde-Domin-Saal der Stadtbücherei Heidelberg, 30. September 2020)
Der Schriftsteller und der Übersetzer, der Dichter und der Nachdichter Richard Pietraß hatte seine ersten weiterhin sichtbaren Veröffentlichungen in drei einander folgenden Ausgaben einer von Bernd Jentzsch herausgegebenen Lyrikreihe namens Poesiealbum. 90 Pfennige kosteten die Hefte und sie wurden in einer Auflage von 10.000 Exemplaren nicht nur in Buchhandlungen, sondern sogar und vor allem an Zeitungskiosken verkauft. Jeden Monat gab es ein neues, eine neue Stimme im Chor der Lyrik. Im Heft Nr. 81 mit Gedichten Marina Zwetajewas erschien im Juni 1974 Pietraß‘ erste Übersetzung aus dem Russischen, in Heft 83 seine Nachdichtung eines Lappland-Poems des norwegischen Dichters Nordahl Grieg und in Heft 82 wurde Richard Pietraß im Juli 1974 mit eigenen Gedichten vorgestellt.
Worum es ihm in seiner Poesie geht, steht auf der Innenklappe des Heftes vom Juli 1974: „Das Leben trifft uns, wie uns wahre Kunst betroffen macht. Daraus entstehen Gedichte. Immer gilt es, den Raum des Sagbaren, letztlich Lebbaren, zu erweitern.“ Ein Mittel, diesen „Raum des Sagbaren […] zu erweitern“, wurde für ihn neben den eigenen Gedichten auch das Übersetzen und das Nachdichten. Dabei schärfte er mitunter die Aussage der Originale und ließ so die Aktualität eines Gedichts etwa von Boris Sluzki oder Nikolai Sabolozki aufblitzen.
In den Poesiealben vom Juni und August 1974, die von Fritz Mierau (Zwetajewa) und Sieglinde Mierau (Grieg) zusammengestellt wurden, ist Pietraß mit jeweils nur einem Gedicht vertreten; die anderen wurden von anderen Dichtern ins Deutsche gebracht, von Heinz Czechowski, Adolf Endler, Elke Erb, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch und Reiner Kunze. Sie alle werden der Sächsischen Dichterschule zugerechnet. In unseren Literaturgeschichten fehlt allerdings ein Kapitel, das auch die herausragenden übersetzerischen Leistungen der Sächsischen Dichterschule in den Blick nähme. Richard Pietraß, 1946 im sächsischen Lichtenstein geboren, gehört zu denen, die man dazu noch befragen kann.
Begonnen hat er mit dem Gedichteschreiben hinter Kasernenmauern in der „Erlebnisarmut“ seines Grundwehrdienstes. Als „Geschenk der Erniedrigung“ erinnert er diesen lebensgeschichtlichen Kippmoment aus dem Ende seiner Militärzeit in Vorpommern. Während des 1968 an der Humboldt-Universität aufgenommenen Studiums der Klinischen Psychologie fand er Anschluss an literarische Zirkel, etwa den Lyrikclub Pankow: „Jeden Donnerstag konnte man dort hingehen, Gedichte vorlesen und über Gedichte debattieren, nicht nur über selbstgeschriebene, sondern auch über Lyrik von García Lorca oder was man sonst noch großartig fand.“
Einen ansteckend hartnäckigen Überschwang hat sich Pietraß durch die Jahrzehnte in seinem Umgang mit deutscher wie ausländischer Poesie bewahrt. Das mag auch daher kommen, dass er weder Germanistik noch eine Fremdsprache hochschulsystematisch studiert hat. Er musste sich daher nicht um jenes „puristische Feldgeschrei“ kümmern, wonach Leben und Werk eines Autors stets und strikt getrennt zu halten seien. Für Pietraß sind die Lebenswege eines Autors wichtig, denn sie können – zusammen mit dem poetologischen und zeitgeschichtlichen Kontext – eine Brücke bilden zum Werk.
Nicht nur die Biographie meint das im Sinne einer Reihung von Lebensdaten, sondern auch das Aufsuchen jener Orte, an denen jene gelebt haben oder noch leben, deren Gedichte er übersetzen wollte. „Pilgerfahrten“ oder auch „Wallfahrten“ nennt er diese Reisen. Mehrfach hat er über sie Auskunft gegeben: Über die Reise etwa nach Russland im Glasnost-und-Perestroika-Winter 1988, wo er sich in Peredelkino für die Übersetzung der Pasternak’schen Gedichte Juri Shiwagos Mut zu machen suchte – „durch Beschnuppern, durch Augenschein“. Liest man den tagebuchartigen Bericht über diese Reise, so ahnt man, worin der Ertrag des Aufsuchens der Datscha des 1960 verstorbenen, kurz zuvor zur Ablehnung des Nobelpreises genötigten russischen Dichters für seinen deutschen Nachdichter bestanden haben mag. Hamlet heißt das erste der fünfundzwanzig Shiwago-Gedichte:
Hamlet
Der Lärm verebbt. Ich trete auf die Bühne.
Und gelehnt ans Pfostenholz der Tür,
Erlausche ich im Nachhall ferner Töne,
Was im Leben noch geschieht mit mir.
Durchs Visier von tausend Operngläsern
Starrt auf mich des Raumes Dunkelheit.
Abba, Vater, wenn es möglich wäre,
Lenke diesen Kelch an mir vorbei.
Zwar liebe ich dein eigensinnig Planen
Und bin, meinen Part zu spielen, gewillt.
Dieses aber ist ein andres Drama,
Diesmal, bitte, schon dein Ebenbild.
Fest gewickelt ist die Handlungsspule,
Und die Tore sind aufs End gestellt.
Ich bin allein: im Pharisäerrudel.
Leben ist kein Gang durch freies Feld.
Bis in Silbenzahl und Lautstruktur folgt der Nachdichter dem russischen Original. Dass er für die Reime und Assonanzen sinntragende Wörter wählte, ist ein Merkmal seines Dichtens und Nachdichtens, gleich den Sinnballungen wie hier in den neuen Wörtern „Pfostenholz“, „Handlungsspule“ und „Pharisäerrudel“. Mit den Anklängen an „Wolfsrudel“ und Das Jahrhundert der Wölfe evoziert dieses eine letzte Wort – „Pharisäerrudel“ – die Gefährdung Pasternaks im 1958 über ihn hereingebrochenen Nobelpreis-Gewitter.
* * *
Erinnerungsgesättigt ist auch der Bericht über eine weitere Pilgerreise, die er ebenfalls noch im Dezember 1988 unternahm. Sie führte ihn auf leicht abenteuerlichen Wegen an einen verwunschenen Ort auf der Karelischen Landenge, nach Roschtschino nahe der finnisch-sowjetischen Grenze. Raivola hieß dieser Ort vor dem Krieg, als Viborg und die Karelische Landenge noch zu Finnland gehörten. In Raivola schrieb die 1923 im Alter von nur 31 Jahren in schlimmster Armut verstorbene Edith Södergran ihre elegischen und ekstatischen Verse vom Land, das nicht ist. 1988, ein halbes Jahrhundert nach Gunnar Ekelöfs Wallfahrt an den Lebens- und Sterbeort der finnlandschwedischen Dichterin, kam Pietraß
„[…] in eine Zeit, der ihre eigene Vergangenheit nicht mehr ist als ein kaum merklicher Schatten. So wußte ich mehr als ich sah. Dieses aber gesehen, den Platz erreicht zu haben, auf dem Edith Södergran aufwuchs, lebte und litt, klagende und kühne Verse schrieb und ihre hochfliegenden Pläne schmiedete, bedeutet mir viel. Zur inneren Anschauung durch ihre Gedichte, Briefe und die Berichte anderer trat so die äußere, die allem die Aura des Authentischen verleiht und es mir erleichtert, die Welt ihrer Gedichte und die Umstände ihres Strebens und Sterbens als Ganzes vor Augen zu haben.“
So liest man es im Nachwort der 1990 bei Reclam in Leipzig erschienenen Södergran-Ausgabe Klauenspur – Gedichte und Briefe. Am Anfang der von Pietraß herausgegebenen Klauenspur steht der fünfzig Jahre zuvor von Gunnar Ekelöf geschriebene Raivola-Bericht. Das Södergran-Buch, das uns deutschen Lesern ganz einzigartig Södergrans Streben und Sterben als Ganzes erfahren lässt,wurde in den Wirren der Wendezeit kaum wahrgenommen. Es blieb in der Randlage: „Wohin ich Habnicht sehe / Sieht mich das Ende an. / Ich stehe und verstehe. / Wende sich, wer kann.“
1975 wurde Richard Pietraß Lyriklektor im Verlag Neues Leben. Und bald auch Lyrik-Redakteur der neuen, Grenzen des Sagbaren überschreitenden Zeitschrift: Temperamente. Blätter für junge Literatur. 1977 übernahm er zusätzlich als Nachfolger des nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns in der Schweiz gebliebenen Bernd Jentzsch die Herausgabe des Poesiealbums. „Die Stelle [im Verlag Neues Leben] war genau das, worauf ich unbewusst immer gewartet hatte. Es schien mir traumhaft, mich Tag um Tag mit Gedichten beschäftigen zu können und dafür noch bezahlt zu werden.“
Aber ganz so traumhaft war die Arbeit im Verlag dann doch nicht. Er wurde mit unverlangt eingesandten Gedichten förmlich überhäuft. Und immer wieder, verschärft nach der Biermann-Ausbürgerung im November 1976, gab es ideologisch motivierte Behinderungen seiner Lektoratsarbeit. So hat Pietraß an elf Heften der Temperamente mitgewirkt, nur fünf davon durften erscheinen. 1979 war das Maß voll. Dem Lektor wurde „in einer […] Nacht-und-Nebel-Aktion“ gekündigt. Der Verlagschef hielt ihm seine Verfehlungen vor:
„’Nichts gegen Ihre Begeisterung für Poesie. Die haben wir wohl bemerkt und wissen wir zu schätzen. Aber in einer Zeit des sich zuspitzenden Klassenkampfes bieten Sie nicht die ausreichende Gewähr zur kommunistischen Erziehung der jungen Generation.‘ Tödliche Sätze, gegen die es, das spürte ich, kein Rechtsmittel gab. Da ich kein Michael Kohlhaas werden wollte, räumte ich das Feld.“
In den Westen ist Pietraß nicht gegangen, er blieb lieber die „Laus im Staatspelz“. Er wurde freischaffend, 1981 auch Mitglied des Schriftstellerverbandes. Stephan Hermlin und Elke Erb haben für ihn gebürgt, wobei Hermlin dem dreißig Jahre jüngeren Kollegen bescheinigte, über „ausgezeichnete Kenntnisse [zu verfügen], was die Situation der Weltlyrik angeht.“ In Elke Erbs persönlich gehaltener Bürgschaft hieß es u.a.:
„Wahrhaftig, authentisch […] wie die eigenen Gedichte sind auch seine Nachdichtungen: Übersetzungen in das eigene Medium, erfreulich unmittelbare (selbständige) Kontaktaufnahmen […] Als Mittler von Literatur hat Pietraß vor allem in der Redaktion der Reihe Poesiealbum Hervorragendes geleistet.“
Aus übersetzungshistorischer Sicht kann man die politische Entlassung aus dem Verlag Neues Leben als Glücksfall betrachten. Denn Pietraß konnte als Freiberufler – mithin unbeschwert durch institutionelle Subordination – nun das betreiben, was er als seine „Dreifelderwirtschaft“ charakterisiert hat: Das Schreiben von Gedichten, das Herausgeben und das Übersetzen von Gedichten. Das Übersetzen, so schildert er es im lebensgeschichtlichen Rückblick,
„gab mir in den achtziger Jahren Brot und was drauf. Dabei konnte ich zunehmend wählen, so daß ich es mir zum Prinzip machte, nur solche Gedichte zu übersetzen, die mir so gefielen, daß ich sie gern selbst geschrieben hätte. Wie ein Schauspieler manchmal auf Zeit Hamlet wird, schlüpfte ich versuchsweise in eine andere Identität. Das ist eine intensive Erfahrung, quälend genußvoll.“
* * *
Will man sich einen Überblick über sein übersetzerisches Werk verschaffen, so begibt man sich am besten an den Leipziger Standort der Deutschen Nationalbibliothek. Denn dort findet man am ehesten Exemplare all der Lyrik-Anthologien und Literaturzeitschriften, in denen seine Nachdichtungen veröffentlicht wurden. Dort finden sich die Poesiealben, in denen er u.a. Eugenio Montale, Julian Przyboś und Sándor Weöres vorgestellt hat. Dort findet sich die Weiße Reihe des Verlags Volk und Welt, in der bis 1990 über hundert Bände mit aus zwei Dutzend Sprachen übersetzten Gedichten erschienen sind, an mehreren davon war Pietraß beteiligt. Und dort finden sich Lyrik-Anthologien, die in den achtziger Jahren von den philologisch geschulten, für verschiedene Sprachen zuständigen Lektorinnen des Reclam-Verlags Leipzig betreut wurden, von Gabriele Bock, Monika Heinker, Birgit Peter und Helgard Rost.
Sie gehörten zu seiner eigenen Generation und erkannten, wie in seinen Gedichten der „Raum des Sagbaren“ beharrlich erweitert wurde – in den bei Aufbau erschienenen Bänden Notausgang (1980), Freiheitsmuseum (1982) und Spielball (1987). Und weil sie ihn als Dichter schätzten, bemühten sie sich um ihn als Nachdichter: Er übersetzte die Berliner Elegien von Gunnar Ekelöf, geschrieben 1933: „Die Haßzeit ist gekommen“, „Die Mordzeit ist gekommen“, „Die Zeit der Verachtung ist gekommen“, „Die Zeit der Kehlen ist gekommen“. Lektoriert wurde der Ekelöf-Band von der Skandinavistin Birgit Peter, mit der Pietraß zwischen 1986 und 1990 auch die Södergran-Auswahl erarbeitet hat. Mitgewirkt hat er ferner an Leipziger Reclam-Anthologien mit polnischer, tschechischer, ungarischer und französischer Dichtung.
Eine regelrechte Arbeitsfreundschaft verband ihn durch ein Jahrzehnt mit Gabriele Bock, die bei Reclam u.a. Übersetzungen aus dem Englischen betreute. Gedichte von Yeats, Auden, Thom Gunn, Ted Hughes und Seamus Heaney wurden von Pietraß ins Deutsche gebracht. Die Lektorin war eine gründliche Leserin, die den Nachdichter auch auf Passagen hinwies, die ihr „anglistisch nicht vertretbar“ erschienen. Die Zusammenarbeit zwischen Pietraß und den Lektorinnen lässt das Wichtigste im damaligen Umgang zwischen Verlagen und ihren Nachdichtern erkennen: Man nahm sich Zeit. Man hatte Respekt vor dem poetischen Talent der Übersetzer und man brachte philologische Sachkenntnis ein, auf die sich wiederum die nachdichtenden Lyriker verlassen durften. „Gern ging ich in solchem Gespann“ mit den „herrlichen Animateuren, Ochsentreibern und Gütekontrolleuren“, notierte Pietraß 2007 und hielt einmal mehr fest, „daß noch wichtiger als das Beherrschen der fremden die Meisterschaft in der eigenen Sprache ist. Sonst mindert man Größe zur Blöße. Also doch lieber Hermlin und Fühmann als der forsche Jetztgehichran.“ Keine reine Freude bereitet Pietraß die Praxis jener „ehrgeizigen, verdienstvollen Monopolisten“, die in schweren Ziegeln das vielbändige Gesamtwerk eines Dichters in ihr nicht stets meisterhaftes Deutsch bringen: „Steinbrucharbeiter, die Berge versetzen. Und doch lechzt unser Ohr nach dem Wenigen der Großen: Bachmann, Rilke, Celan.“
Bei Reclam Leipzig erschien 1987 in Pietraß‘ Nachdichtung Seamus Heaneys Norden / North. „Wenn es einer schafft“, ermunterte die Lektorin den Nachdichter im Jahr zuvor, „den Kampf mit Heaney aufzunehmen, bist Du es.“ Und dass das ein Kampf war, hat Pietraß nicht in eine der abgenutzten Metaphern vom Fährmann oder Brückenbauer gebracht, sondern er prägte ein treffenderes Bild des Übersetzungsvorgangs:
„Es war ein Gang übers Moor. Links und rechts meines abgründigen Pfades glucksten die Laute und Bedeutungen, irrlichterten Redewendungen und ‚false friends‘. Neben den hilfreichen Anmerkungen der Lektorin […] blieb mir als Moorführer mein poetischer Instinkt. Sackte ich dennoch ins Bodenlose, half […] nur noch der Griff nach dem eigenen Zopf.“
Zu bedenken ist beim Bild vom Übersetzen als einem „Gang übers Moor“, dass Pietraß keinen Kontakt zu Muttersprachlern aufnehmen konnte und ihm zu Beginn seiner Arbeit an englischen Texten nicht einmal das unentbehrliche Wörterbuch von Muret/Sanders zur Verfügung stand. Das Englische war immerhin neben dem Russischen Schulfach gewesen auf der Oberschule in Lichtenstein. Zusätzlich hatte er sich
„im Alter von 17 Jahren in den Sommerferien […] einen 300-seitigen Roman über die Entwicklung der Atombombe [in den USA vorgenommen], bei dem Liebe und Spionage im Mittelpunkt standen […]. Ich habe jeden Tag alle Wörter notiert, die ich nicht kannte. Am Anfang waren es 35 Wörter pro Seite. Ich mußte fast jedes Wort aufschreiben. Es war eine verzweifelte Arbeit, jeden Tag acht Stunden. Aber ganz allmählich wurden es weniger, zum Schluß waren es nur noch zwei Wörter pro Seite. Auf diese Weise habe ich in zwei Wochen 2000 Vokabeln gelernt. Diese 14 Tage waren sozusagen mein Intensivkurs in Englisch. […] Erst 1990 hatte ich Gelegenheit, ein englischsprachiges Land zu besuchen.“
Auch Irland hat er Mitte der neunziger Jahre besucht. Er erkundete Heaneys Geburtsort und Kindheitslandschaft im Norden der Insel, sah die „Vergitterungen und Maschinengewehrläufe“ an der inneririschen Grenze, traf Mitglieder der Heaney-Familie und später in Dublin den Dichter selbst. Der las ihm „die gewünschten Gedichte“ vor, darunter die beiden Ars-poetica-Texte The Diviner und das „Generationen- und Spatengedicht Digging, Auftakt seines ersten Bandes und zugleich Kammerton seines Kernwerks.“ Die Schlußstrophen lauten in der Nachdichtung:
Bei Gott, der Alte konnte mit dem Spaten.
So wie einst sein Alter
Mein Großvater stach mehr Torf pro Tag
Als jeder andre Mann im Tonermoor.
Einst brachte ich ihm Milch in einer Flasche,
Die lässig mit Papier verstöpselt war. Er richtete
Sich zum Trinken auf, dann fuhr er fort,
Sorgsam zu kerben und zu teilen, warf Rasenstücke
Über seine Schulter, suchte guten Torf
Und kam, grabend, immer tiefer.
Der kühle Duft von Kartoffelerde, das Platschen
Und Klatschen des nassen Torfs, die scharfen Schnitte
Des Blatts durch frische Wurzeln werden in mir wach.
Doch fehlt mir der Spaten, solchen Männern zu folgen.
Zwischen Finger und Daumen
Liegt flach meine Feder.
Mit ihr werd ich graben.
Der verwaiste Spaten steht über dem 2015 in Sinn und Form veröffentlichten Bericht, in dem Pietraß seine Begegnung mit Seamus Heaney erinnert. Er schildert dort auch, wie er 1995 die Akademie in Stockholm und das Nobelkomitee in robusten Worten aufgefordert hat, bei der Versendung der raren Einladungen zur Überreichung des Literaturnobelpreises die Übersetzerzunft nicht zu vergessen, sie nicht hinter all jenen Diplomaten und Potentaten zurückstehen zu lassen, die frackgewandet der Krönungszeremonie zuschauen dürfen.
Das ist keine schlechte Frage, die Pietraß da 1995 aufgeworfen hat: In welchem Umfang mögen die Mitglieder des Nobelkomitees bei ihren Entscheidungen auf Übersetzungen angewiesen sein? Und das nicht nur bei Preisträgern, die ihre Werke auf Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Türkisch oder Ungarisch geschrieben haben. Selbst bei einem Dichter wie Seamus Heaney könnte es eine Weile gedauert haben, bis man sich in Stockholm in sein nicht leicht zu verstehendes Englisch eingelesen hatte. Die Germersheimer Diplom-Übersetzerin Claire McTague, die wie Heaney aus dem Norden Irlands stammt, erzählte 1996 in einem Gespräch mit Richard Pietraß, dass sie beim Lesen der Heaney-Gedichte mitunter hilfesuchend in die deutsche Übersetzung geschaut habe, um das Original zu verstehen.
Nicht jede seiner Wallfahrten an die Orte der von ihm übersetzten Dichter hat Pietraß in einem Bericht festgehalten. Das gilt etwa für seine Begegnung mit Ted Hughes, den er Anfang der achtziger Jahre für Reclam übersetzt hat. 1994 traf er ihn auf dem Lyrikfestival im mazedonischen Struga am Ohridsee und bekam von ihm die Adresse in England. 1999, wenige Monate nach Hughes‘ Tod, reiste er an Hughes‘ letzten Lebensort, suchte das Grab, das es nicht gab, weil es nicht von hasserfüllten Feministinnen geschändet werden sollte wie das von Sylvia Plath Hughes: „Mir blieb, dir ins Wortland zu folgen“, heißt es in dem Ted Hughes gewidmeten, erlebnisgedeckten Porträtgedicht: „Erschaffen / Hast du den Otter, die Eule, die göttliche / Krähe. Ein Gatter knarrte, ich stand / Am irdischen Ufer des Taw. Schwarze / Tinte verströmend, schreibt er sich schnörkelnd / Ins Land […].“
Ein weiteres brüderlich gestimmtes Porträtgedicht hat Pietraß auf den Dichter Tomas Tranströmer geschrieben: Die Treppen von Bratislava. Vier Gedichte hatte er Anfang der achtziger Jahre für den in der Weißen Reihe verlegten Band Formeln der Reise übersetzt. 1986 und später erneut konnte er ihn und Monica Tranströmer in Västerås besuchen. Im November 2000 brachte er in Visby Übersetzer aus den Ostseeanrainerregionen sowie aus Japan zu einem „drömseminarium“, einem Traumseminar zusammen, auf dem Tranströmer-Gedichte in sieben Sprachen übersetzt wurden. Der schwedische Dichter, seit Jahren nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und des Sprechens kaum noch fähig, kam mit seiner Frau nach Gotland herübergeflogen. „Det är mycket bra – das ist sehr gut“ mag er gesagt haben, als er das siebenfache Echo seiner Poesie vernommen hatte, diesen Satz, der ihm nach dem Schlaganfall verblieben war: „Det är mycket bra.“
Im September 2011 besuchte Richard Pietraß die Tranströmers noch einmal, jetzt in Stockholm, wo er mit Monica Tranströmer eine Karikaturzeichnung des rumänischen Dichters Marin Sorescu fand für jene Gedicht-Auswahl, die in der wiederbelebten Poesiealbum-Reihe erscheinen sollte. Als das Heft 2012 gedruckt wurde, konnte der Verleger auf dem Umschlag vermerken: „Nobelpreis 2011“. In dem Reisebericht Flug in die Stille hat Pietraß den Besuch beschrieben – samt seinen Erkundungen in Tranströmers Stockholmer Kindheits- und Jugendkiez Södermalm und auch auf der Insel Runmarö, deren „kindheitsher leuchtende Schönheit aus vielen [seiner] Gedichte spricht.“ Das Porträtgedicht entstand 1998 nach einer Begegnung in Bratislava, wo dem schwedischen Dichter der Ján-Smrek-Preis verliehen wurde.
Die Treppen von Bratislava
Für Tomas Tranströmer
I
Daß Gehen Fallen ist,
Verhindertes Fallen, nie
Wurde ich daran so erinnert
Wie auf den Treppen des Primaten-
Palasts, die du hinabstiegst
Auf deinen ungleichen Beinen,
mehr sankst und sacktest,
aber aufrecht wie ein die Evolution
mit Zähnen und Klauen verteidigender
Hominide, in der Hosentasche
den Talismann, den ersten behauenen
Stein. Sacktest und sankst,
daß ich meinte, dich auffangen
zu müssen, ein Feuerwehrmann,
der mit seinem Sprungtuch auf den Verzweifelten
wartet. Du aber hieltst die Zähne
zusammen, die zitternden Knie und fielst,
kontrolliert, aufrecht Stufe um Stufe,
gestützt auf deinen dünnen Stock
und Monikas aufrichtige, aufrichtende Nähe. Du kamst
hinunter, wie du hinaufgekommen warst,
ein trotziger Homo sapiens, der das Un-
mögliche in kleinste Schritte
zerlegt wie der Fließbandingenieur
das aus einer Unzahl von Handgriffen
zu montierende Wunderwerk des Autos
oder die mondumrundende Kapsel.
II
Einmal sah ich dich, in Västerås,
als du auf das Klavier zustürztest
und der Hocker fing dich auf.
Mit dem ersten angeschlagenen Ton
betratst du das Reich der Musik
in dem du gleichsam auf Händen
gingst, auf deiner gesunden
Hand. Draußen lag staubfeiner Schnee,
der in der Sonne glitzerte.
Und es wuchsen aus Tönen und Flocken
dir prächtige Schwingen, die dich entführten
in Sphären, die mir verschlossen sind.
Tranströmer, Heaney, Södergran, Pasternak, Zwetajewa – von keinem von ihnen hat Pietraß je alles übersetzen wollen. Aber sie alle wurden für ihn zu Lebensthemen und ihren Lebenswegen hat er sich immer wieder zugewandt: in realen Pilgerschaften, aber auch in unerfüllten, erträumt-erwünschten, etwa nach Jelabuga in Tatarstan, wohin Marina Zwetajewa 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit ihrem Sohn Mur evakuiert wurde und wo sie „ihrem Leben am lang schon gesuchten Haken ein Ende setzte“. Ihr Sohn starb neunzehnjährig im Sommer 1944 als Sanitätssoldat in Weißrussland im Krieg gegen die deutsche Wehrmacht. Zwetajewas Leichnam wurde in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Seit 1974 hat Pietraß Gedichte der Zwetajewa ins Deutsche geholt. 2018 schrieb er das Gedicht einer unerfüllten, brüderlich gestimmten Pilgerfahrt an ihren fernen Todesort:
Abort
Bäume, Waisen des Winds
Wurzeln, würgend nah.
Wo Tote vergessen sind
Hechelt kein Heureka.
Flechten, federndes Moos
Gewölle des Nirwana.
Marina, weißer Delphin
Im Lehmfjord Jelabuga.
Trau meinem Tritt auf der Karte
Vernimm meinen maulfaulen Gruß
Wo das Blut dir erstarrte
Am Haken der kranken Rus.
Werd ich dich nicht treffen
Zwischen Traum und Port
Bleibt mir, die Segel zu reffen
Deinem streunenden Wort.
Nach Jelabuga konnte Pietraß nicht gelangen, aber an ihrem langjährigen Exilort ist er ihren Lebensspuren nachgegangen: in Paris. Daraus ist 2019 Der Drang nach Haus entstanden, veröffentlicht als Nachwort im gleichnamigen Heft der Friedenauer Presse mit Zwetajewas Gedichten aus ihrem Exil. In Erinnerung gebracht sind dort auch die Übertragungen der in Berlin, Prag und Paris entstandenen Zwetajewa-Gedichte durch Elke Erb, Sarah Kirsch, Karl Mickel und Richard Pietraß.
Paris – dorthin reist er seit 2008 regelmäßig. Das hat natürlich mit Liebe zu tun, mit Gabriele Wennemer, die Pietraßens Pariser Lust gemeinsam mit Alain Lance ins Französische übersetzt hat: Au Plaisir de Paris, 2011 in 300 Exemplaren von Ulrich Keicher veröffentlicht.
Dem Paris-Erlebnis verdankt sich auch die Nachdichtung des apollinaire’schen Pont Mirabeau. Wer Freude hat am Vergleichen, mag Pietraß‘ Version neben früher entstandene halten, etwa die von Enzensberger, und er wird staunen, wie Pietraß seine Vorgänger an Reimkunst, Ballung der Wortfolge und Verstärkung der einzelnen Bilder kräftig überbietet:
Pont Mirabeau
Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine
Und unsre Liebe dahin
Weiß ich wenn ich mich gräme
Stets folgten Freuden der Träne
Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile
[…]
Die Liebe zerfließt wie tanzendes Naß
Die Liebe zerfließt
Wie das Leben verblaßt
Im Feuer der Hoffnung verpraßt
Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile
Es fliegen die Tage fliehen die Wochen
Nichts kehrt zurück
Nicht die Zeit die Liebe zerbrochen
Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine
Komm Nacht Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile
Von Jürgen Engler auf seine Arbeit als Übersetzer angesprochen, sagte Pietraß vor zwei Jahrzehnten: „Meine mitspürende Spannweite ist groß, kapituliert aber vor fremden Kulturen wie denen Asiens und Afrikas. Europäisches, ja auch europäisiert Amerikanisches bleibt mir einfühlbar, sogar wenn ich die Sprache nicht spreche.“
Es wäre an der Zeit, die seit bald einem halben Jahrhundert entstandenen, arg verstreut veröffentlichten Nachdichtungen des Richard Pietraß sowohl aus jenen Sprachen, die er spricht, wie aus denen, die er „kaum radebricht“, zusammenzutragen, sie zu lesen und in einem Auswahlband neu vorzustellen. Gang übers Moor – Nachdichtungen aus fünf Jahrzehnten, so könnte der Titel dieses Buches lauten. Und auf dem Schutzumschlag sollte stehen: Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik 2020.